Wer hätte das vor dem Beginn dieser Auseinandersetzung ernsthaft erwartet? Durch einen 3:2-Erfolg am Mittwoch in Spiel 5 der Best-of-7-Serie in der ersten Runde der Western Conference in den Stanley Cup Playoffs 2023, haben sich Philipp Grubauer und seine Seattle Kraken eine 3:2-Serienführung erarbeitet. Durch einen weiteren Sieg kann der Außenseiter in seiner ersten Playoff-Teilnahme überhaupt den Titelverteidiger, die Colorado Avalanche, aus dem Wettbewerb schießen.

Die erste von maximal zwei Gelegenheiten dazu bietet sich am Freitag (10 p.m. ET; NHL.tv; Sa. 4 Uhr MESZ) auf heimischem Eis in der Climate Pledge Arena in Seattle. "Es ist großartig, aber am Ende des Tages ist der vierte Sieg am schwersten zu bekommen, und das wissen wir", relativierte Stürmer Yanni Gourde die aufkommende Euphorie im Lager der Kraken direkt nach dem Spiel.
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Hauptgründe für die günstige Ausgangslage, in der sich das neueste Team der Liga befindet, sind die starken Leistungen ihres erfahrenen deutschen Torhüters, der beim Erfolg in Denver 26 Rettungstaten ansammelte, und die effektive Abwehrarbeit, mit der die Kraken die starke Offensive der Avalanche nicht zur Entfaltung kommen lassen.
"Wir haben nach unserer Identität gespielt. Das werden wir auch weiterhin versuchen. Das ist das Wichtigste", erklärte Seattles Trainer Dave Hakstol den Erfolg seiner Schützlinge. "Zu dieser Jahreszeit ist die Bühne ein wenig größer, sie ist ein wenig heller. Es steht ein bisschen mehr auf dem Spiel und alles bedeutet ein bisschen mehr, aber man muss immer noch auf das zurückgreifen, was man ist. Und ich glaube, dass unsere Veteranen einen guten Job gemacht haben."
Was dies bedeutet, zeigen die Statistiken. Lag der Schnitt der erzielten Tore der Avalanche in der regulären Saison noch bei 3,34 pro Begegnung, liegt er in den fünf Aufeinandertreffen mit den Kraken deutlich niedriger (2,8). In drei der fünf Duelle erzielte Colorado zwei oder weniger Treffer, darunter auch das wichtige Spiel 5 in Denver. In zwei Begegnungen hintereinander gelang es Seattle zudem, die Anzahl der Torschüsse des Gegners bei unter 30 zu halten.
Die Kraken haben außerdem in dieser Serie in jedem der absolvierten Spiele das erste Tor erzielt, was ihnen natürlich zusätzlich ideal in die Karten spielte. Der Kader ist breit aufgestellt, hat keine einzelnen Star-Spieler in seinen Reihen. "Ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort", lautete die bescheidene Analyse von Morgan Geekie, der in der Ball Arena für das 1:0 in der 27. Minute verantwortlich zeichnete. "Alex Wennberg hat einen tollen Spielzug gemacht. Ich habe einfach versucht, dorthin zu kommen und den Abpraller zu erwischen." Im Erfolgsfall kann Eishockey sehr einfach sein.
Eine ähnlich simple Erfolgsformel lieferte nach Spielende Tye Kartye, der erst am Mittwoch von Coachella Valley aus der American Hockey League in den NHL-Kader beordert wurde, und die Kraken in der 30. Minute mit 2:1 in Führung bringen konnte, als er einen Querpass von Jordan Eberle erfolgreich in den Maschen versenken konnte. "Ich war gerade auf dem Weg zum Tor, als ich sah, dass er den Puck hatte und versuchte ihn abzuspielen. Offensichtlich hat er einen ganz besonderen Pass zu mir gespielt", lobte Kartye. "Vor einem Jahr, vor anderthalb Jahren, war das mein größter Traum. Dieser Tag war also etwas ganz Besonderes für mich", räumte er persönliche Freude über seinen Premieren-Treffer ein. Grund dazu hatte er, denn Kartye ist erst der achte Spieler in der Geschichte der NHL seit 1927, der bei seinem Debüt in den Playoffs direkt ein Tor erzielt hat.

SEA@COL, Sp5: Kartye erzielt sein erstes NHL-Tor

Wichtig für den bisherigen Verlauf der Serie ist zudem die Tatsache, dass im Sturm der Avalanche mit Mikko Rantanen (5-2-7) und Nathan MacKinnon (3-3-6) bisher lediglich zwei Angreifer die von ihnen gewohnten Offensivstatistiken in den Playoffs produzieren konnten. Die beiden sind jedoch die einzigen beiden Aktiven im Kader des Favoriten, die schon mehr als einen Treffer in der Postseason vorzuweisen haben.
Nur sehr wenige hatten von Grubauer und seinen Mitstreitern ernsthaft erwartet, dass dem Team beim Playoff-Debüt die Chance auf eine dicke Überraschung ins Haus stehen würde. Ein Weiterkommen gegen Colorado, was mit der 3:2-Serienführung im Rücken im Bereich des Möglichen ist, wäre das erste dicke Ausrufezeichen der jungen Organisation, die erst zur Saison 2021/22 in der NHL gestartet ist.
Ganz anders stellte sich die Stimmungslage nach der Heimpleite auf der anderen Seite dar. "Ist doch klar, dass wir jetzt frustriert sind", räumte Avalanche-Trainer Jared Bednar unumwunden ein. "Wir haben heute vor unseren eigenen Fans eine große Chance vertan. Das war wieder nicht annähernd das Spiel, das wir spielen müssen, um erfolgreich zu sein. Wir sind gezwungen, schleunigst einen Weg zu finden, unser Selbstvertrauen zurückzubekommen."
Selbstvertrauen ist das eine, doch die Avalanche müssen auch Wege finden, mehr in der Offensive zu kreieren und die kompakte Spielweise der Kraken zu knacken. Des Weiteren sind die Favoriten in der Defensive ungewöhnlich extrem anfällig für die schnellen Gegenzüge von Seattle. Es wird keine leichte Aufgabe für Bednar und sein Team, diese ganzen Baustellen kurzfristig zu schließen.
"Wir hatten heute Abend weder unser A-Spiel noch unser B-Spiel", bekannte MacKinnon. "Wir müssen jetzt einen Weg finden, um Spiel 7 hierher zurückzuholen." Gelingt den Avalanche das nicht, sind die Titelverteidiger schon zum Auftakt in die Playoffs aus dem Rennen. Grubauer, der bis zum Sommer 2021 in der NHL einst selber in Denver aktiv war, bevor er es ihn überraschend zum Liganeuling nach Seattle zog, hätte mit Sicherheit nichts dagegen, wenn sich MacKinnons Wunsch nicht erfüllen würde.